Sonntag, 20. Oktober, 5.50 Uhr
Es wird ja immer schlimmer. Gerade schreibe ich die Titelzeile, schaue rechts unten auf die Datums- und Uhrzeile am Computer und denke, da stimmt doch was nicht, schaue auf die Uhr und merke, das stimmt doch: erst zehn vor sechs. Um eine Stunde vertan. Wollte erst später aufstehen, später an den Computer, zur Selbstdisziplinierung, um die sinnlose Zwanghaftigkeit des sonntäglichen Frühstaufstehens zu sabotieren. Aber anscheinend hat mich der erste Blick im Dunklen auf die Uhr getäuscht, beziehungsweise: Ich habe mich selbst ausgetrickst.
„Im Dunklen“ oder „im Dunkeln“? Ich tippe auf „Im Dunklen“. Mal nachgucken. Mhm. „Im Dunkeln“ ist richtig, sagt der Duden.
Kurze Pause gemacht. Im Internet rumgesucht. Bin immer noch im Dunklen oder Dunkeln. Draußen ist es auch noch stockdunkle. Ha, kleiner Scherz. Kein Scherz, was ich gefunden habe (in Auszügen):
Wie alles im Leben ist aber auch diese Sache komplexer, als man meint. Beim Nachdenken fiel uns auf, wie sehr sich der Begriff Dunkel/dunkel
in Dunkelheit hüllt. Das beginnt mit seinem Ursprung, über den man nur vage Aussagen machen kann. Wir können nicht einmal raten, ob das Wort aus dem Indogermanischen stammt oder ein alteuropäisches Substratwort ist. Auch seine Gestalt im heutigen Deutsch gibt Rätsel auf: Hochdeutsch müßte es eigentlich nach der hochdeutschen Lautverschiebung tunkel
heißen, denn d-
findet man in den anderen germanischen Sprachen, etwa im englischen dark
oder im isländischen dökkur
. Vergleiche englisch do, door, dish
versus hochdeutsch tun, Tür, Tisch
. Tatsächlich hieß es auch bis vor kurzem noch tunkel
– bei Luther sogar grundsätzlich. Das heutige dunkel
ist ein Niedergermanismus. Auch die Beugung ist dunkel, läßt sich aber ertasten: Im Deutschen gibt es zwei Gruppen von Adjektiven, die zweierlei Substantivierungen bilden: Sprachbezeichnungen und die Namen von Farben. Wir sagen das Deutsch-e
, wenn wir vom Deutschen schlechthin sprechen, aber das Deutsch
, wenn wir über ein besonderes Deutsches
Deutsch
sprechen: Das beste Deutsch, frühes oder modernes Deutsch, Beamtendeutsch, im heutigen Deutsch
. Wir sprechen von einem Häuschen im Grünen
, aber vom Blau
des Himmels und nicht vom Blauen
. Die Beugung von das Dunkel
macht deutlich, daß auch das Adjektiv dunkel
als Farbadjektiv empfunden wird:
Standarddeutsch | Idiolekt | |
---|---|---|
Nom | Das Dunkel bedroht uns. | das Dunkle |
Akk | Licht ins Dunkel bringen | das Dunkle |
Dat | Im Dunkeln ist gut Munkeln. | im Dunklen |
Gen | die Herrschaft des Dunkeln | des Dunklen |
Wir haben überlegt, ob man heute sagt Das Dunkle droht überall
statt Das Dunkel droht überall
. Wahrscheinlich würden sich die meisten für jenes entscheiden, womit erwiesen ist, daß man das Dunkle schlechthin
meint, aber das spezielle Dunkel
. Denn spricht man davon, Licht ins Dunkel zu bringen, dann meint man damit einen speziellen dunklen Fleck, eine unklare Angelegenheit. Aus dieser Systematik heraus muß es also lauten: Licht ins Dunkel
.
Habe ich mir jetzt Licht ins Dunkel meines Dunklen gebracht? Und was ist ein „Idiolekt“? Nächstes Nachguck-Päuschen.
Idiolekt (gelegentlich auch: Ideolekt) bezeichnet die individuelle Sprache eines einzelnen Menschen. Dazu gehören etwa sein Wortschatz, sein Sprachverhalten, seine Ausdrucksweise und seine Aussprache. Der Idiolekt ist eine sprachliche Varietät auf der Ebene des einzelnen Sprechers. Die Idiolektanalyse ist auch eine zentrale Methode in der Forensischen Linguistik. Durch Untersuchung sprachlicher Besonderheiten von Texten kann der Kreis der Täter (z.B. der Schreiber von Drohbriefen) erheblich eingegrenzt werden.
Oha! Dann darf ich niemals Drohbriefe schreiben, denn mein Idiolekt würde mich eindeutig verraten. Anderes Wort: Syllogismus. Bin ich gestern drüber gestolpert, bis dahin hatte ich es immer überlesen, aus dem Textzusammenhang eingeordnet oder uneingeordnet gelassen. Gestern überlegt: Muss von „logos“, das Wort, kommen; „Syl“? Vielleicht „zusammen“, „gleich“ oder so. Nachgeguckt. Jetzt weiß ich es. Wusste es. Hab die exakte Definition schon wieder vergessen, nur behalten: Ist wie das, das ich mal als Deduktionsschluss gelernt habe: Alle Menschen sind sterblich / Hessen sind Menschen / Hessen sind sterblich. – Der Induktionsschluss ist das gegenteilige Prinzip. Hatte das nicht etwas mit Hegel und der Dialektik zu tun? Wie ungebildet man doch ist.
Woran erkennt man Bildung? Zum Beispiel daran, ob man promoviert hat oder wurde? Ob man der oder die Peloponnes sagt? In der „Literarischen Welt“ vom Samstag lese ich: „Sahl, der über altdeutsche Malerei promoviert hatte …“ Ist das richtig? Nee, ich internette nicht schon wieder, jetzt wird nicht mehr nachgegoogelt. Beim Peloponnes muss ich gar nicht erst nachschauen, das habe ich oft genug in den Kolumnen untergebracht, dass er die Insel des Pelops ist, der Peloponnes also die Peloponnes sein muss, wenn man nicht als Banausenolbel wie ich gelten will.
Ebenfalls in der „Literarischen Welt“: Kolumne von Fritz J. Raddatz (unvermeidlicher Hinweis: der mit Goethe am Frankfurter Hauptbahnhof). Lese ich normalerweise nicht, wegen Penetranz. Titel aber: „Was ich immer schon über Sport wissen wollte“. Will ich dann halt doch wissen, was der Typ schon immer über Sport wissen wollte. Nur das übliche Vonobenherabgeseiere, garniert mit Sex, denn Raddatz‘ Expertenmeinung: Im Sport ist „irgendeine verborgene, verbogene Form der Sexprotzerei eklatant“. Und: „Es kann mir kein Mensch einreden, dass die ganz offensichtlich lustbetonte Körpersprache der selbst ernannten Arenahelden kein erotisches Signal sei.“ Es kann ihm kein Mensch einreden, dass es kein erotisches Signal ist, weil er sich einredet, dass es eines ist. Wem alles Sex ist, ist auch aller Sport Sex. Aparter Ausdruck: „Arenahelden.“ Wenn ich’s googeln würde, wetten, dass es in keinem Sportbericht auftaucht, nur in Artikeln Sportfremder über Sport? Raddatz benutzt auch eine meiner Lieblingsdooffloskeln: „Selbst ernannt“ (heißt in meinem Idiolekt „selbsternannt“, aber der Duden gibt Raddatz recht). Wer über „selbst ernannte“ Soundsos redet oder schreibt, hat sie meist selbst dazu ernannt, nicht sie sich.
Mit Freude stelle ich fest, dass ich mit diesem wegen des Zufrühaufstehens ausufernden Blogeintrag (in meinem Idiolekt heißt das Blog übrigens der Blog) endlich beim Sport angekommen bin und den Raddatz-Absatz daher wieder als Steinesbruch für die „Montagsthemen“ benutzen kann. Rein muss natürlich auch das zweite „Phantomtor“ der Bundesliga, obwohl ich keine Lust dazu habe. Erstens schreibe ich nicht gerne über etwas, über das alle schreiben und reden, zweitens muss ich dann unweigerlich zum überx-ten Mal auf meine Video-Hilfe kommen. Aber es muss wohl sein. Vor diesem Blogschreibenundschreiben habe ich schon im eigenen Archiv geforscht, was ich damals über Helmers Nicht-Tor geschrieben hatte. Seltsam: nichts, überhaupt nichts zu finden. Muss im Urlaub gewesen sein. Krank war ich nicht, war ich ja nie vor Beginn des Senilitätseintrittsalters. Wahrscheinlich ebenfalls ein Thema: Ballbesitz. Michael Horeni, einer der nicht allzu vielen Kollegen großer Zeitungen, auf die man als kleiner Journalist stolz sein kann, schreibt dazu am Samstag in der FAZ fast eine ganze Seite. Tenor: Ballbesitz-Statistik „lässt jedoch keine Aussage mehr über das Ergebnis zu“. Sag ich doch, schreib ich doch, hab ich doch immer schon geschrieben. Nur das „mehr“ stört mich. War schon immer so.
Nächsten Sonntag Winterzeit. Gewinne oder verliere ich eine Stunde? Jahr für Jahr die gleiche Frage, die Antwort ist immer schneller vergessen als der Syllogismus. Falls ich sie verliere, habe ich heute schon trainiert. Und. Das. Muss. Für. Heute. Früh. Endlich. Genügen.
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